Vom Schnäppchen zum Schnippchen
Während die anderen Verkäufer in dem Hallen-Flohmarkt hinter ihren Waren saßen und den möglichen Kunden schlimmstenfalls mit Worten lockten, kam dieser Verkäufer auf mich zu und tat das, was den Menschen besonders hinhorchen lässt: Er flüsterte. Jedenfalls ich höre sofort noch eine Stufe aufmerksamer auf das, was mir zugeflüstert wird, als wenn es mir in normaler Sprechfrequenz-Dezibel gesagt wird. „Mit einer Mark sparen Sie Hunderte - pro Jahr..." hatte der Mann geflüstert und mir seine and mir seine Ware hingehalten. Wenn er mir eine Stange Zigaretten entgegengestreckt. hätte wie jener Mensch auf dem marcheaux-puce in Paris oder wäre sein Arm vom Handgelenk bis zum Oberarm behängt gewesen mit 100 Armbanduhren wie bei seinem Kollegen auf dem Flohmarkt vor dem neuen Kunstmuseumsgebäude in Sao Paulo - ich wäre schon weiter vor ihm auf dem Gang zwischen den ganzen Flohmarkt-Ständen ausgewichen und hätte vorsteuernd ablehnend den Kopf geschüttelt. Von wegen anständig bleiben und so. Aber dieser Mensch trug Harmloses und flüstert trotzdem. Er hielt mir ein ganzes Bündel dieser blauen Parkscheiben aus Plastik entgegen, auf denen in weißem Feld mittels Drehrad die Ankunftszeit des Fahrers für sein Auto eingestellt wird. Eine solche besitze ich von meiner Kfz-Versicherung, eine weitere von meiner Stamm-Tankstelle, eine dritte und vierte von einer Pharma-Firma und einem Hotel- und trotzdem blieb ich vor dem Mann mit seinem Bündel Parkscheiben stehen und hörte mir den Satz nochmals an, noch leiser geflüstert, obwohl ich jetzt direkt vor ihm stand: „Eine Mark pro Stück - und Sie zahlen nie mehr Parkgebühren..." Der Trick: In dieser Parkscheibe war ein Uhrwerk. Beim Parken sollte der Hebel dieses Uhrwerks (auf der Rückseite) auf Stopp gestellt werden, während die Scheibe meine Ankunftszeit anzeigt. Wenn der Hebel nochmals umgelegt wird, springt die eingebaute Uhr auf die aktuelle Zeit zurück und die Scheibe zeigt eine entsprechend spätere Ankunftszeit. Also ich habe natürlich selbstverständlich dieses Angebot abgelehnt, sofort diese Einladung zum Betrug unseres Staatswesens von mir gewiesen. Und bin weiter gegangen, kopfschüttelnd und mit den üblichen Gefühlen der Entrüstung. Leider haben Entrüstungsgefühle auch eine andere Seite, nämlich die des besonderen Interesses an dem, was man ablehnt. Einige Tage später begegnete mir eben eine solche Parkscheibe mit Uhrwerk im Bestellkatalog eines durchaus - wie ich bisher dachte seriösen Versandhauses. Offiziell wurde dort dieselbe Parkscheibe angeboten wenn auch nicht für eine Mark, sondern für über zehn. War meine erste Entrüstung eher bedauernder Art („hätte ich nicht doch diese einmalige Gelegenheit...") so war meine jetzige Entrüstung ehrlicher: Wie ich das finde! Über Katalog die Bürger zum Betrug an den schmalen Stadtsäckeln aufrufen! Die netten Politessen betrügen. Einen Rechtsfreiraum schaffen. Diese Parkscheibe verdirbt den Rest von unserem Charakter, der ohnehin in dieser Zeit auf „Schnäppchen"-Kurs aus ist statt auf hanseatische saubere Geschäfte. Vom Schnäppchen zum Schnippchen (schlagen) und damit in die Nähe des Schwindels geraten dazu verführen diese Art Waren. Dachte und fühlte ich und ging zu der Telefonzelle in der Nähe der Polizei, von der mir die Freundin meiner Tochter glaubhaft erzählt hatte, daß das Ding hakt und man mit einer Mark überall hin telefonieren könne. Das ist eben die andere Seite der Entrüstung. Nämlich ihr Grund.
22. Oktober 1996